Eröffnung der Ausstellung VON FERN UND NAH von Astrid Konradt-Bock und Henning Bock im Arbeitsgericht Bielefeld, März 2024

Sabine Ehlers: Aus der Einführungsrede zu den Arbeiten von Henning Bock

Sehr geehrte Gäste,

Sie sind heute hierhergekommen um gemeinsam mit dem Ehepaar Bock diese Ausstellung zu erleben. Ein Künstlerpaar stellt gemeinsam aus, das ist schon etwas Besonderes. Denn hier geht es nicht so sehr um Gemeinsamkeiten, sondern eher um die je eigenen Sichtweisen und daraus folgernd die Gestaltungsweisen. Über das je Eigene und über das doch auch Gemeinsame möchte ich heute hier versuchen Ihnen etwas zu erläutern:

Schon der gewählte Titel der Ausstellung „Von Fern und Nah“ macht die zwei Positionen deutlich. Astrid steht für das Ferne und Henning für das Nahe. (…) Henning geht nah heran, an seine Objekte. Die er sich sehr genau ansieht, die er als wahr annimmt, also wahrnimmt. Es sind Schädel verschiedenster Tiere und deren Knochen, die er in ihren konkaven und konvexen räumlichen Aufbau untersucht und in ihren räumlichen Zusammenhängen erforscht. So entstehen Studien dieser Formen. Aber es geht ihm nicht um das genaue Darstellen dieser gegenständlichen Naturformen, sondern hier setzt sein künstlerisches Durchdringen der jeweiligen Form an, er schafft biomorphe Formen, also künstlerisch eigenständige Umsetzungen des Gesehenen. So das wir als Betrachter noch Anklänge an einen Schädel, ein Horn eines Tieres oder einen anderen Knochen erahnen können. Wir können also nicht beim Betrachten dieser Werke einfach nur sagen, ach das ist doch... sondern wir werden in das Formenrepertoire der Natur hineingezogen und müssen uns mit der nun ganz neuen eigenständigen Formensprache der Zeichnungen und besonders der Plastiken hineinsehen und uns von diesen Gestaltungen faszinieren lassen. Wir erahnen das Bekannte und tauchen ein in das Unbekannte der künstlerischen Gestaltung. Die Tuschezeichnungen leben von einer kraftvollen Strichführung und Dynamik, hier ist nichts Lebloses in den Zeichnungen, sie feiern das Leben und die Achtung vor der Natur. Die Skulpturen aus unterschiedlichen Steinen: wie Kalksandstein oder Marmor zeigen eine achtsame Arbeitsweise. Diese ist der richtige Weg, um sich der Form im Stein zu nähern. Deshalb wird auch so lapidar gesagt: was weg ist, ist weg! Die Form, die Henning herausarbeiten möchte, muss geplant und achtsam korrigierend aus dem Stein befreit werden. Dabei hat natürlich die Ausgangsform und das Material des Steins schon eine bedeutsame Funktion. Das Spiel der Wölbungen und Höhlungen im Licht und die unterschiedlichen Gestaltungen einzelner Partien als glatt oder rau sind die künstlerischen Entscheidungen der Gestaltungen des eigenständigen Werkes, in dem wir trotzdem die Anklänge an Naturformen erahnen können. Tauchen sie ein in die wunderbar vielfältigen Naturanspielungen und deren künstlerische Umsetzungen, die Henning Bock uns hier präsentiert. Die Vorgaben aus der Natur und der eigene künstlerische Gestaltungswille zeigen uns hier so vielfältige Arbeiten, die uns Staunen lassen. (...)

Ja, und was verbindet diese Künstlerpaar? Natürlich das Sehen der Natur als Wegbereiter ihre jeweilen künstlerischen Arbeitsweisen. Die Achtung und Wertschätzung der sie umgebenden Natur öffnet ihre Kreativität und Freude an der Gestaltung eigener Werke. Dieses Tun ist für beide eine große, besondere Gabe, die sie und vor allem uns als Betrachter bereichert. Denn nur Astrid und Henning können diese Werke schaffen und uns heute hier präsentieren.

Denken Sie daran, die Arbeiten sind zu kaufen, damit sie zu Hause die tägliche Freude haben immer wieder anders mit dem jeweiligen Werk Zwiesprache zu halten. Ich wünsche Ihnen viel Freude beim Betrachten.

@ Sabine Ehlers, 10.03.2024

Eröffnung der Ausstellung „Biomorphe Welten“ von Henning Bock im Museum Koenig Bonn, Januar 2024

Stefan Wilsmann: Zu den Tuschelavierungen von Henning Bock

(…) Sich an Knochen als den Überresten tierischen Lebens zu wagen, das stellt eine enorme Schwierigkeit dar, ist – eben: Knochenarbeit. Warum? Stellen Sie sich bitte einmal vor, sie sollten den wirklichen Inhalt des im Kunstunterricht wieder und wieder verwendeten Wortes Allansichtigkeit begreifen. Wovon ich spreche, das ist nicht nur ein Wort, sondern es geht darum zu begreifen, was Plastizität im eigentlichen Sinne des Wortes ist: nämlich das Sich- Erstrecken eines Gegenstandes im Raum, das Begreifen eines Objekts als eine sich im Raum kontinuierende Form, das wahrhaftige Begreifen und Umsetzen eines allansichtigen, raumgreifenden und raumdurchflutenden Objekts. Jetzt könnten sie, um das für Sie, den Lernenden, induktiv erfahrbar zu machen, als Lehrkraft eine Aufgabe ersinnen wie das Abmodellieren oder Heraushauen eines Gesichts etwa, was ich getan und dabei in meinem Studium über Monate gebraucht habe.

Auch das war schon schwierig, von der Zeichnung, der Fläche her denkend zu verstehen, dass wir es bei einem solchermaßen ausgedehnten Objekt nicht mit einer Addition unterschiedlicher Flächen zu tun haben, sondern mit einem, wie gesagt, Kontinuum. Doch beim idealtypisch als oval beschreibbaren Kopf ließ sich noch nachvollziehen, das eine Form nicht endet, wo die Zeichnung eine Linie als Notnagel zur Hilfe nimmt. Doch war ist mit den von Henning Bock ausgewählten Objekten, mit diesen Knochen und ihren wahrhaftigen Abgründen, ich spreche von extremen konkaven und konvexen Ausstülpungen bzw. Einbuchtungen, Richtungsänderungen: in den Skulpturen Bocks sind sie als sanft beschrieben. In Wahrheit aber kann haben wir es mit einem extremen Schwierigkeitsgrad zu tun, weil hier das Kontinuum einer sich ausbreitenden und in den Raum hineinwalzenden Form ständig unterbrochen wird, gestört, Raum ins Objekt einbricht, aus ihm herausflutet und so weiter. So etwas musst du erst einmal, profan gesagt, hinkriegen.

Bock kriegt es hin, hat es hingekriegt, und das in geradezu meisterhafter Weise. Und was er auch hinkriegt, ist, dass man bei all den unfassbar schönen Formen, die entstanden sind, zu allerletzt an Kadaver, an die Überreste toten Tieres denkt, die hier Pate gestanden haben: mit dem pars-pro-toto-Prinzip aus kleinen Ausbuchtungen im Schädel durch die Wahl eines zoomartigen Ausschnitts hallenartige Räume zaubernd, lebt, was Bock hier dem Blick freigibt: Nichts scheint hier, wie es sich dreht und windet, sich in den Raum hineinzwirbelt und ihn zugleich wie in leichtem Spiel wieder in sich hineinlässt, dem Totenreich entkrochen, nein, wo sich Formen zur Decke winden, sich Strecken, Fährten plötzlich einfalten. (…)

Quelle: Textauszug aus dem Manuskript von Stefan Wilsmann zu seiner Einführungsrede in die Ausstellung „Henning Bock, Biomorphe Welten“, Museum Koenig Bonn, 24. Januar 2024

Eröffnung der Ausstellung „Biomorphe Bildwelten“ von Henning Bock in der Galerie ART ROOM am 5. März 2022

Ute Aldag

Liebe Kunstfreunde und -freundinnen,
es ist mir Freude und Ehre zugleich, Sie kurz in die hier gezeigten künstlerischen Arbeiten Henning Bocks einführen zu dürfen:

Henning Bock wird in seinem Schaffen durch ein für ihn seit jeher bestehendes Interesse an und eine intensive Wahrnehmung von Naturphänomenen verschiedenster Art geleitet. Seine Faszination für Farben, Formen, Gestalt gebende und verändernde Kräfte der Natur zeigt sich in dieser Ausstellung, die er „Biomorphe Bildwelten“ betitelt, in vielfältig aspektierter Weise.
„Biomorph“ – zunächst – bedeutet dem Duden gemäß „von den Kräften des natürlichen Lebens geformt“. „Biomorphe Bildwelten“ handeln mithin von der Gestalt, welche die Natur je spezifischem Leben gibt – und deren Transformation - so ist hinzuzufügen - durch die künstlerische Arbeit Henning Bocks.
Die Werkgruppe, die hier präsentiert wird, besteht aus insgesamt ca. 50 zeichnerischen, druckgraphischen sowie skulpturalen Exponaten, die im Zeitraum der letzten 2 bis 2,5 Jahre entstanden sind. Während dieser Zeit hat H.B. vor originalen Präparaten im Zoologischen Forschungsmuseum Alexander Koenig in Bonn gearbeitet. Vielfältige knöcherne Relikte vergangenen tierischen Lebens, so z.B. von Bär, Wal, Tapir, Antilope, Flusspferd, Elefant, Wisent oder Seekuh regten ihn dabei zu intensiven Wahrnehmungs- und Aneignungsprozessen an. Schädel, Wirbel und Knochen bilden somit die motivischen Ansatzpunkte und den verbindenden Rahmen der hier zu sehenden, medial je ganz unterschiedlich realisierten Arbeiten.

Anschaulich und man könnte geradezu sagen „ursprünglich“ lässt sich diese motivische Herkunft auch in der mit „Quarantäne“ betitelten Radierung aus dem Jahr 2020 erkennen: Die knöchernen Strukturen, die dort auf einer Grundplatte aufgetürmt erscheinen, entstammen der „Quarantänesituation“ einer sogenannten „Entwesungspalette“, auf welcher zoologische Präparate bei – 50 Grad entkeimt werden. Ein Vorgang, dem sich Henning Bock in Bonn erstmalig konfrontiert sah und den er hier ausdrucksvoll in eine Radierung umsetzt.
Der Natur als Gestalt gebender Kraft stellt er sich gewissermaßen an die Seite, aber, und das zeigt sich unmittelbar, nicht um etwa mit ihr – neu schaffend – zu konkurrieren, sondern als jemand, der sich von ihr zu Transformationen ihrer Gestaltungen inspiriert sieht. Die knöchernen Relikte vergangenen Lebens überführt er in der artifiziellen, medialen Welt der Kunst in anders und neu gesehene Möglichkeiten ihrer Wahrnehmung.

Henning Bock fertigt aus der unmittelbaren Anschauung vor Ort heraus zeichnerische oder auch fotografische Studien an. Mit einem künstlerisch forschenden Blick, ihr ästhetisches Potential erwägend, nähert er sich den natürlichen bzw. musealen Anschauungsobjekten. Er dreht und wendet sie, erkundet Volumen und Form, Rhythmik und Struktur, Wölbungen, Vertiefungen, Höhlungen, – Leichtes, Festes, Zartes, lenkt den Blick aufs Ganze oder aufs Detail, entdeckt Feinstoffliches, Griffiges, Faseriges. Man schaue sich das z.B. an den kleinen, in Tusche ausgeführten, Wirbel- und Strukturstudien (2019) an! Diese Studien bilden sozusagen das „Quellenmaterial“, an das er im Atelier anknüpft und es dort in immer wieder neuen, medial und technisch vielfältig variierten zeichnerischen, druckgraphischen und skulpturalen Arbeiten weiter entfaltet und ihre Ausdrucksmöglichkeiten variationsreich und virtuos auslotet. In der Variationsbreite und zugleich Dichte der hier gezeigten Arbeiten vermitteln sich nicht zuletzt diese Intensität und Experimentierfreude, mit der sich Henning Bock dem Schaffensprozess widmet.

Er entfaltet „Bildwelten“, die - was sich dem Betrachter ziemlich unmittelbar bestätigt - von der Wiedergabe biologischer-naturwissenschaftlicher Realität und Abbildhaftigkeit befreit sind, die sich vielmehr autonomisieren, ein ästhetisches „Eigenleben“ entwickeln, in ihrer spezifischen Formensprache aber immer auf ihren natürlichen Herkunftsbezug verweisen. Dem Betrachter eröffnen Henning Bocks künstlerische Interpretationen Assoziationsräume und Vorstellungswelten, die weit über die Wahrnehmung der Referenzobjekte hinausweisen. Gut zeigt dies z.B. die Tuschelavierung „ohne Titel“ aus dem Jahr 2020 (Tusche, Schellack, partiell Spachtelmasse): Durch die Beschränkung auf Ausschnitthaftes, durch Monumentalisierung, Kleines – vermutlich ein Knochenstück – wird groß dargestellt, durch einen lockeren und schwungvollen gestischen Duktus wird hier eine Bildwirkung erzeugt, die uns vielleicht ein Landschafts-phänomen, vielleicht eine Felsformation vermuten lassen. Das nicht Eindeutige gewinnt einen anregenden ästhetischen Reiz, der die Vorstellungskräfte aktiviert.

Das besondere Interesse an der Wahrnehmung und Transformation natürlicher und organischer Formen, Farben und Materialien spiegeln auch die skulpturalen Objekte wider. Betrachten wir die kleinen bronzenen Torsi (2020/21, vgl. Galerie/Kleinplastik und Skulptur). Sie veranschaulichen uns den künstlerischen Prozess auf eine vergleichsweise einfache Weise: Der Künstler nimmt die natürliche Formschönheit eines Steins (in diesem Fall eines Feuersteins) wahr. Er dreht und wendet ihn, hebt ihn von der Horizontalen in die Vertikale und verleiht ihm bildhauerisch durch grün patinierte oder glänzend polierte Bronze einen faszinierenden Zugewinn an Ausdruck. Durch die Wahrnehmung und die Idee des Künstlers ereignet sich so ein Bedeutungswandel: der Stein geht von seiner Ursprünglichkeit in – zeichenhafte – Mehrdeutigkeit über.

Die Skulpturen beeindrucken durch das Zusammenspiel prägnanter organischer Formgebung sowie einfühlsamer Oberflächenbearbeitung, die den Charakter und die Schönheit des verwendeten Naturmaterials sichtbar machen und unterstreichen. In Synthese mit den motivischen Anklängen führt der Künstler das z.B. auf eindrucksvolle Art und Weise in den in Baumberger Kalksandstein ausgeführten Werken (hier besonders SC-I und SC-III) oder der Skulptur SC-VI aus Galastone vor. In jenen dominieren und beeindrucken Klarheit und Eleganz, in diesem Kraft und Vitalität, ohne dass freilich die Momente des stärker Expressiven den kontemplativen Grundzug, der sich eigentlich in allen Werken zeigt, entschiedener beeinträchtigen.

Das zeigt sich auch in den drei imponierenden Farbholzschnitten aus dem Jahr 2021, die er jeweils mit „Trophäe“ betitelt. Eine „Trophäe“ bezeichnet ein erbeutetes Objekt, das gemeinhin vom Jäger als Zeichen des Triumphes über das erlegte Tier zur Schau, zur Bewunderung ausgestellt wird. Diese semantische Dimension lässt der Künstler durchaus in der starken Präsenz anklingen, die er den transformierten Schädelformen (von z.B. Flusspferd-Trophäe III und Bär-Trophäe II) durch strenge Vertikalität, durch expressive Farbgebung sowie dominante Zentralität im Bild verleiht. Die drei Arbeiten/Darstellungen entwickeln eine starke - trotz einer gewissen durch Humor geleiteten Verspieltheit durchaus dem Schrecken nahe - Wirkung, und können vom Betrachter als geradezu konfrontativ wahrgenommen werden. Deutet sich hier eine eher existenziell-skeptische Sichtweise an?

Henning Bock enthebt seine Referenzobjekte ihrer musealen Abgeschlossenheit und überführt sie in die offenen Möglichkeitsdimensionen unserer Vorstellungswelt. Durch den motivisch-thematischen Schwerpunkt (Schädel, Knochen) werden wir dabei aber auch unweigerlich auf den Traditionszusammenhang des Vanitasgedankens geführt, der sich in vielen Arbeiten dieser Werkgruppe in einer von traditionellen religiösen Kontexten unabhängigen Besinnlichkeit – und neben der auffälligen gestalterischen Lust – ebenfalls entfaltet. Im Zusammenspiel beider – Experimentierfreude und Besinnlichkeit – entwickeln sich die Werke Henning Bocks zu vergleichsweise Singulärem.

Überzeugen Sie sich davon!
Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen und Anregung bei der Betrachtung der Werke!

©  Ute Aldag, Manuskript zur Eröffnungsrede der Ausstellung „Henning Bock, Biomorphe Bildwelten“ in der Galerie ART ROOM, Düsseldorf, März 2022

 

Aneignung und Transformation biomorpher Strukturen im Werk von Henning Bock

Frank Duwe

Das vielfältige Werk von Henning Bock ist vor allem durch das mannigfache Formenrepertoire der Natur geprägt, das unter immer neuen Perspektiven und Aspekten Anlass zur künstlerischen Transformation auf dem Weg in die Abstraktion gibt. Abseits der multimedialen Entfesselung künstlerischer Umsetzungen, die in den letzten 50 Jahren die internationale Kunstszene in ein facettenreiches, zuweilen faszinierendes Kaleidoskop der Techniken und ihrer Querverbindungen versetzt hat, hält es Henning Bock dezidiert mit den klassischen Techniken Zeichnung, Skulptur und Druckgrafik.

Als im späten 19. Jahrhundert Paul Cézanne begann, die Natur nicht mehr nur in der retinalen Perzeption künstlerisch abzubilden, sondern auf ihren „Wahrheitsgehalt“, auf ihre Essenz, hin zu untersuchen, war die Grundlage der modernen Kunst formuliert. Das Kunstwerk wurde zunehmend zu einem autonomen Gebilde, welches sich ästhetisch selbstbewusst einen eigenständigen Platz in der Wahrnehmung der Welt eroberte. Seitdem hat die Kunst zahlreiche Wege der Abstraktion weiter beschritten, Wege, die mal näher, mal entfernter zur Naturrezeption als Auslöser kreativ-künstlerischer Verselbständigungsprozesse standen. Interessanterweise wurde Cézanne in seiner differenzierenden Verarbeitung der Naturformen – vor allem der Montagne Sainte Victoire und des Steinbruchs von Bibémus, aber auch in einer kurzen Phase von menschlichen Schädeln – zuweilen von geologischen Erkenntnissen geleitet, die sich aber auf seinem Weg rasch mit den künstlerischen Zielen verbanden.

Im organischen Bereich kommen den Gesteinsformen tierische und menschliche Knochen am nächsten. Sie sind gewissermaßen die verfestigten und überdauernden Formen des Lebens. Die Naturwissenschaften versuchen, mit Hilfe von morphologischen Studien Klassifikationen und Systematiken herzustellen, die für das tiefere Verständnis des Lebens erhellend sind. Hierzu sind mit der Neuzeit naturwissenschaftliche Museen entstanden, die in ihren Sammlungen diese Klassifikationen und Systematiken zur Anschauung bringen. Parallel zu den Naturwissenschaften haben sich Kunstschaffende daran begeben, mit den Mitteln der Kunst ganz eigene Morphologien der Naturphänomene zu entwerfen. Dieser Art, Kunst zu kreieren, fühlt sich auch Henning Bock eng verbunden. Um sich der Erforschung biomorpher Erscheinungen zu nähern, begibt er sich auf einen Weg der Annäherung über verschiedene Techniken und Materialien. Es entsteht eine breite Palette von der Zeichnung – in Grafit, Kohle, Kreide, Filzstift oder (mehr gestisch) mit dem Tuschpinsel – bis hin zur Skulptur. Grafische Drucktechniken ergänzen mit ihren spezifischen Eigenqualitäten diese Palette. Die den künstlerischen Prozess auslösende Wahrnehmung erfolgt mal mehr von der Totalen aus, mal mehr von Nahem, vom Blick auf das Ganze oder das Detail. Detailreichtum einzelner Blätter kontrastiert mit eher verwischender Umsetzung in anderen Blättern. Der Künstler arbeitet sich am Gegenstand ab. Während des Prozesses der künstlerischen Invention findet ein intensiver Dialog zwischen Intuition, Idee und prozesshafter, handwerklicher Umsetzung statt. Es entstehen individuelle Morphologien von Naturformen („biomorphe Bildwelten“), deren künstlerische Verarbeitung gleichwertige, wenn auch andersartige Ergebnisse zu denjenigen der Naturwissenschaften sind.

Unter einigen Philosophen der romantischen Phase im frühen 19. Jahrhundert wurde der Kunst eine besondere, herausragende Stellung im Prozess der Welterkenntnis zugesprochen. Nach einer Krise der Bewusstseinsphilosophie um 1900 und einem linguistic turn im 20. Jahrhundert scheint die Bedeutung von Kunst und von Bildern wieder einen anerkannteren Stellenwert in der Geistesgeschichte zu erlangen. Manche sprechen sogar seit dem Ende des letzten Jahrhunderts inzwischen von einem pictorial oder iconic turn, der postskriptual-kritisch auf bildhermeneutischem Weg neue Möglichkeiten des Denkens in Bildern und über Bilder aufzeigt. „Kontext“ bedeutet eben nicht nur ein Bezugssystem des Wortes oder geschriebenen Textes, sondern ebenso auch ein Bezugssystem der Bilder, die, aktueller denn je, allerdings ihre historisch mittlerweile verbrauchten symbolhaften Bezugspunkte hinter sich gelassen haben. Kunst ist – auch in ihren „konservativen“ Erscheinungsformen des Bildes oder des plastischen Werkes – autonom geworden. Sie vermittelt sich der Rezipientengemeinschaft über die ihr innewohnenden Kräfte einer eigenen Semantik und Syntax. Der alltägliche Blick – ob auf alltagsweltliche Erscheinungen oder auf Kunstwerke – orientiert sich konventionell in der Regel an bereits vertrauten und erfahrenen Formen und Gestalten, die in unserem Gedächtnis gestaltpsychologisch gespeichert sind. Neues versuchen wir im Vergleich zu Bekanntem zu erkennen und zu verstehen. Auf diese Weise werden unbekannte abstrakte Formen leicht zu Tieren (Elefanten, Wale, Schafe etc.) oder anderen bekannten Naturformen aus der realistischen Erfahrungswelt, die wir im Kunstwerk „wiederzuerkennen“ glauben. Es erfordert geistig-abstrahierende Anstrengungen, abstrakte Werke der Kunst als abstrakt und sonst nichts anderes zu sehen. Kunst transformiert die Wahrnehmungsprozesse. Sie erweitert Vorstellungswelten und stellt das Konventionelle in Frage.

Mit der Einführung des Objet trouvé (gefundene triviale Objekte der Konsumgesellschaft) in die Kunst thematisierte Duchamp vor mehr als 100 Jahren auf radikale Weise die rezipierenden Gewohnheiten, sowohl auf das Kunstwerk selbst, als auch auf den spezifisch situativen Ort der Begegnung mit ihm. Biomorphe Formen, vornehmlich aus der Welt der tierischen Schädel, sind in gewisser Weise Objets trouvés für Henning Bock. Sie haben zwar keinen konsumistischen Trivialcharakter, werden aber in nicht-künstlerischen Kontexten „aufgefunden“. Besonders häufig findet er sie in der vielfältigen Sammlung des Zoologischen Forschungsmuseums Alexander Koenig in Bonn, aber auch andernorts in der Natur. Die Objets trouvés werden in diesem Zusammenhang gewissermaßen zu Objets naturels (vgl. zu dieser Begrifflichkeit: Christa Lichtenstern, Henry Moore, München / Berlin 2008, S. 53). Sie öffnen sich der Phantasie des Künstlers, der ihre Strukturen und Materialeigenschaften erkundet und sich aus einer intensivierten und reflektierten Gestaltwahrnehmung diese künstlerisch aneignet. Der Prozess des Sich-Aneignens ist dabei nicht nur ein rein geistiger, sondern ebenso ein konkret handelnder im Agieren mit den künstlerischen Techniken, die die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen der gestalterischen Umsetzung setzen. Auf diese Weise sind die Werke Henning Bocks immer auch Zeichnungen, Skulpturen oder Druckgrafiken an sich, in denen die Spezifika dieser Techniken ein immanenter Bestandteil der Werkaussage bleiben. Geistiges und Praktisch-Gestaltendes treten in einen Dialog, an dessen Ende das fertige Werk steht. Dies betrifft Zeichnung, Druckgrafik und Skulptur gleichermaßen, die sich im Ausloten ihrer spezifischen gestalterischen Eigenschaften und Möglichkeiten oft in einem zeitlichen und / oder inhaltlichen Zusammenhang gegenseitig bedingen oder beeinflussen. Künstlerischen Aussagen zu einzelnen Sujets werden so in den differenten medialen Techniken modifiziert und erhalten auf diese Weise ganz unterschiedliche ästhetische Wirksamkeit. Vom Flusspferdschädel existieren z. B. neben einer Grafitstudie auch eine Tuschestudie und eine Tuschezeichnung, vom Grindwalschädel eine Tuschestudie eine Tonstudie und Radierungen (Kaltnadel bzw. Zinkätzung). Die zur Anwendung gelangenden grafischen Drucktechniken werden auf vielfältige Weise vom Künstler entsprechend ihrer ästhetischen Aussagekraft und Unterschiedlichkeit zum Einsatz gebracht: Radierungen in Tiefdrucktechniken (linear kalt geritzt und geätzt, flächig mit samtigen Aquatinta-Passagen und damit wiederum verbunden experimentell mit Aussprengtechnik (Réservage) und in Hochdrucktechniken des mehrfarbigen Linol- und Holzschnittes im sogenannten „Verfahren der verlorenen Platte" (Reduktionsdruck) - mit den Besonderheiten der jeweiligen Schnitttechniken und deren Werkspuren. Henning Bock gelingt es, durch den souveränen Einsatz der genannten Techniken zu ein und demselben realen Ausgangsobjekt eine breite Palette vielfältiger ästhetischer Aussagen zu machen, die gestalterisch prozesshaft generiert werden.

Die dreidimensionalen Werke, die Skulpturen, sind nicht nur Objekte an sich. Sie formulieren gleichzeitig Aussagen über ihr Verhältnis zum Raum, in dem sie sich befinden. Die Form kann in den Raum ausgreifen, sogar innere Räume – Hohlräume – in sich bilden. „A hole can itself have as much shape-meaning as a solid mass“, sagte Henry Moore einmal. – Die Form kann aber auch implodieren, als absolute Masse komprimiert auf sich selbst bezogen bleiben, mit klaren Trennlinien zum Umgebungsraum. Henning Bock verwendet in einigen Fällen Tuffstein, in dem sich – quasi auf eine natürliche geologische Weise – größere oder kleinere Blasen gebildet haben. Das Material als solches thematisiert auf natürlichem Wege das immer schon bei plastischen Künstlern wichtige Thema des Verhältnisses von Masse, Material und Raum. Die kopfähnlichen Gebilde, die Henning Bock aus diesem Material formt, nehmen – mal konkreter, mal diffuser – eine Idee Brancusis auf, der seine „Köpfe“ als plastische Objekte in einem von allen Konventionen losgelösten Bezugssystem ohne Fixierung und ohne Sockel sieht, die sogar in ihrem Standort variabel sind. Bei Brancusi „implodiert“ die Masse; es gibt keinen aktiven Raumbezug außer dem, dass das künstlerische Objekt einfach „da ist“. Die Grenzen zwischen plastischem Körper und Umgebungsraum sind hermetisch gegeneinander abgegrenzt. Bei Henning Bock wird diese Thematik auf eine faszinierende Art modifiziert. Die Grenzen zwischen plastischer Form und Raum wird durch das natürliche Material des Tuffsteins aufgebrochen. Die natürlich vorgefundenen Höhlungen werden durch ihre Materialqualität zu einer künstlerischen Aussage erweitert.

Die Arbeiten Henning Bocks sind ein gutes Beispiel dafür, dass Kunst zu Beginn des 21. Jahrhunderts in einer Zeit des vielfach propagierten Posthistoire sich auf vielfältige Weise zu präsentieren vermag, eine Kunst, die mit dem Rückgriff auf die traditionellen gestalterischen Techniken nicht obsolet zu sein braucht, sondern – im Gegenteil – jede Menge faszinierende Impulse frei setzt und im Dialog mit den Betrachtenden zu zahlreichen – auch überraschenden - Kunsterfahrungen beiträgt.

Frank Duwe ist promovierter Kunstwissenschaftler und lebt in Bielefeld

Quelle: Henning Bock, Biomorphe Bildwelten, Bielefeld 2022, S. 6-9